2. Januar 2013

Die unaufmerksame Gesellschaft


Hängengeblieben an einem Artikel (bzw. Auszüge aus dem Buch "Zur Besinnung kommen") von Jon Kabat-Zinn, der lesenswert weit über das eigentliche Thema hinaus geht. Hier der Link zum Originalartikel, und nachfolgend einige Abschnitte daraus. Obwohl das Thema ursprünglich Aufmerksamkeitsstörungen von Kindern zu sein scheint, zeigt er uns allen sehr deutlich, dass weniger einzelne Kinder/Menschen an ADS/ADHS erkrankt sind, sondern vielmehr wir alle! Krank ist unsere unaufmerksame Gesellschaft:

Wir haben uns der natürlichen Welt und einem Leben der Verbundenheit innerhalb der Gemeinschaft, in die wir geboren wurden, immer mehr entfremdet. Und dieser Wandel ist in den beiden letzten Jahrzehnten noch drastischer geworden, seit die digitale Revolution sich über die ganze Welt ausgebreitet hat. Alle unsere „zeitsparenden“ Gerätschaften haben unser Leben immer schneller werden lassen und zu immer größerer Abstraktion geführt – wir sind unserem Körper zunehmend fremder und ferner geworden.

Es ist immer schwerer geworden, aufmerksam bei einer Sache zu bleiben, und die Dinge, die um unsere Aufmerksamkeit heischen, vermehren sich ständig. Wir sind nur allzu leicht abgelenkt und noch leichter zerstreut. Informationen, Forderungen, Termine, Mitteilungen stürmen unablässig auf uns ein. Und fast all die Dinge, die uns in gnadenloser Geschwindigkeit bombardieren, sind menschengemacht. Es steht eine Absicht dahinter, und meistens wird dabei entweder an unsere Gier oder an unsere Angst appelliert.

Diese Angriffe auf unser Nervensystem stimulieren und nähren unablässig Begehren und Erregung statt Zufriedenheit und Ruhe. Sie begünstigen bloßes Reagieren anstelle von Kommunizieren, nähren Zwietracht anstelle von Eintracht oder Frieden, sie kitzeln unsere Begehrlichkeit, so dass wir nicht mehr mit dem zufrieden und in Frieden sein können, was wir sind. Und wenn wir nicht achtgeben, berauben sie uns vor allem unserer Zeit, unserer kostbaren Momente. Dieser ständige Ansturm dringlicher Angelegenheiten zwingt uns gerade dazu, uns in die Zukunft zu projizieren, in Gedanken an die Zukunft zu leben.

Dem Geschehen immer einen Schritt voraus

All diese Geschwindigkeit, diese Habgier und dieser Mangel an körperlicher Sensibilität bringen uns dazu, immer mehr in unserem Kopf zu leben. Wir versuchen, uns die Dinge zurechtzulegen und dem Geschehen immer einen Schritt voraus zu sein, statt zu spüren, wie die Dinge wirklich sind. In einer Welt, die längst nicht mehr vorwiegend natürlich oder lebendig ist, haben wir es ständig mit Maschinen zu tun, die unsere Reichweite ausdehnen, während wir uns durch die Gewöhnung an ihren Gebrauch – sei es das Radio im Auto, das Auto selbst, der Fernseher im Schlafzimmer oder der Computer im Büro und zunehmend auch in der Küche – immer mehr von unserem Körper entfremden.

Die gnadenlose Beschleunigung unseres Lebensstils während der vergangenen Jahrzehnte hat die Konzentration auf irgendeine Sache zu einer beinahe verlorengegangenen Kunst gemacht. Die wachsende Zahl unserer technischen Hilfsmittel hat unsere Fähigkeit und Neigung unterminiert, unsere Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten und dadurch die Dinge wirklich bis in die Tiefe kennenzulernen, bevor wir zum Handeln übergehen. Dieser Mangel an Aufmerksamkeit lässt uns zum Beispiel beim Versenden einer E-Mail auf „Absenden“ klicken, und uns erst im nächsten Augenblick daran erinnern, dass wir vergessen haben, das Dokument anzuhängen, das wir eben noch als Anhang angekündigt haben. Oder uns fällt erst im Nachhinein ein, dass wir eigentlich nicht sagen wollten, was wir gerade gesagt haben, oder dass wir nicht gesagt haben, was wir eigentlich sagen wollten… zu spät!


Was können wir tun?

Kein Wunder, dass so viele von uns in der Natur Stille suchen und sie auch finden. Die natürliche Welt kennt keine Künstlichkeit. Der Baum vor unserem Fenster und die Vögel in diesem Baum stehen allein im Jetzt. Sie sind Überreste einer einst jungfräulichen Wildnis, die dort, wo es sie in geschützten Bereichen noch gibt, für uns Menschen das Zeitlose repräsentiert. Wir haben instinktiv das Gefühl, ein Teil der Natur zu sein, weil unsere Vorfahren aus ihr und in sie hinein geboren wurden und die natürliche Welt für sie die einzige Welt war, die es gab. Sie bot ihren Bewohnern eine Vielfalt von Erfahrungsdimensionen, und der Mensch musste sie alle verstehen, um überleben zu können. Dazu gehörte auch das, was sie manchmal die Welt der Geister oder die Welt der Götter nannten, Welten, die man spüren, aber gewöhnlich nicht sehen konnte.

Eine Einladung in die Gegenwart

Der Wandel der Jahreszeiten, Wind und Wetter, Tag und Nacht, Berge, Flüsse, Bäume, Meere und Meeresströmungen, Felder, Pflanzen, die Wildnis und wilde Tiere – das alles spricht auch heute noch zu uns. Sie locken uns und laden uns ein in die Gegenwart, in der sie jederzeit existieren – wir natürlich auch, nur, dass wir das vergessen haben. Sie helfen uns, uns zu sammeln und wieder auf das zu achten, was wirklich wichtig ist. Sie erinnern uns, in Mary Olivers wohlgesetzten Worten, an „unseren Platz in der Familie der Dinge“.