14. März 2022

Lesetip: Seven Life Lessons of Chaos

 

Der Physiker  F. David Peat und der Journalist John Briggs sind ein bewährtes Gespann, um schwierige Theorien anschaulich zu erklären. Ihr Klassiker ist "Die Entdeckung des Chaos: Eine Reise durch die Chaos-Theorie", Erstveröffentlichung 1989. Für mich war dieses Buch der Grund, die Fachrichtung Strömungslehre und dynamische Systeme zum Schwerpunkt zu machen. 

Bis heute beschäftige ich mich damit, nun am dynamischen System Mensch. Denn die Chinesische Medizin hat all die Phänomene bereits vor 2000 Jahren ebenfalls sehr anschaulich beschrieben.

Seven Life Lessons of Chaos:
Spiritual Wisdom from the Science of Change

ist 1999 zuerst erschienen. (Es gab sogar eine deutsche Übersetzung, "Chaos - Abschied von der Sehnsucht, alles im Griff zu bekommen", die nur noch antiquarisch erhältlich ist. Das amerikanische Original liest sich jedoch auch für Laien gut.) Auch dieses Buch hat nichts an Aktualität verloren.

Die Autoren übertragen konsequent die Prinzipien der Chaosforschung in die Alltagswelt. Sie beschreiben sehr anschaulich, wie die Welt der modernen Rationalität versucht, die Kontrolle um jeden Preis zu bewahren. Doch wir alle haben oft genug erfahren, wie wenig das gelingt. Wir erleben es im Privaten. 

Wir erleben es in der Wissenschaftswelt. Denn sogar die Chaosforschung ist nichts anderes, als die Suche, die Sucht, die versteckten Gesetzmässigkeiten und Regeln zu entlarven, die uns helfen sollen, das Unvorhersehbare vorauszusagen. Doch das Chaos bricht keineswegs aus, es bedroht keineswegs unsere ordentliche, strukturierte Alltagswelt. Schöpferisches Chaos ist der Normalzustand. Wir leben mittendrin im Ozean des chaotischen Lebens, auch wenn wir auf winzigen Inselchen der Ordnung sitzen.

Wir erleben es noch mehr in der Medizin, wie wenig Kontrolle wir selbst über unkomplizierte Symptome haben. Denn Heilung ist etwas anderes, als Kontrolle zu bewahren. Symptome fordern uns auf, offener und flexibler zu werden und gewohnheiten zu verändern. Das bedeutet, uns auf Chaos einzulassen, statt es vehement abzuwehren. 

Die letzten Blog-Beiträge als Zusammenfassung in meinen Worten gaben schon einen Vorgeschmack auf die Lektüre. Es lohnt sich zu lesen, auf den Sätzen rumzukauen, darüber nachzudenken, sich im Alltag zu beobachten und neue Wege zu entdecken:

If you have ever felt your life was out of control and headed toward chaos,science has an important message: Life is chaos, and that's a very exciting thing!

In this eye-opening book, John Briggs and F. David Peat reveal seven enlightening lessons for embracing the chaos of daily life.

Be Creative:
engage with chaos to find imaginative new solutions and live more dynamically

Use Butterfly Power:
let chaos grow local efforts into global results

Go With the Flow:
use chaos to work collectively with others

Explore What's Between:
discover life's rich subtleties and avoid the traps of stereotypes

See the Art of the World:
appreciate the beauty of life's chaos

Live Within Time:
utilize time's hidden depths

Rejoin the Whole:
realize our fractal connectedness to each other and the world

Life is impossible to control - instead of fighting this truth, Seven Life Lessons of Chaos shows you how to accept, celebrate, and use it to live life to its fullest.

 

Shui dao, der Weg des Wassers

 

Wir brauchen schöpferisches Chaos!

Die erste Lektion, die uns die Romantiker hinterlassen haben, lautet, dass wir alle Zugang zum kreativen Chaos haben. Wir alle sind in der Lage, unser Ego für eine Weile sterben zu lassen und in die Tiefen des Chaos zu tauchen, aus dem ständig neue Formen und Strukturen heraufsprudeln.

Die größte Leistung unseres schöpferischen Intellekts erbringt er keineswegs in Kunst oder Wissenschaft. Sie liegt in der alltaglichen Kunst des spontanen Handelns, mit der wir unsere Gesellschaft zusammenhalten. Doch im Gegensatz zu diesem Satz fühlen sich die meisten von uns eben nicht kreativ. Die meisten blocken die schöpferischen Aktionen ständig ab. Wir verlieren uns selbst in unserer Obsession nach Kontrolle und Macht; in unserer Angst vor Fehlern; lassen uns vom Ego fast erwürgen; trauen uns nicht aus der Bequemlichkeit der Komfortzone; einen Genuss nach dem anderen abgestumpft konsumierend. 

Das ist alles andere als ein Zustand von Freiheit und Wahrheit!

Doch sobald wir unseren Blick weiten, öffen für die Welt jenseits der Scheuklappen, erleben wir die Wahrheit, werden wir schöpferisch und frei. Hier finden wir unser wahres Selbst.

Shui dao, der Weg des Wassers

So wie Wasser sich mäandernd seinen Weg durch die Landschaft sucht und  schafft; wie es sich den Gegebenheiten anpasst; die großen Felsbrocken umfliesst, die kleinen Steine zu seinem Bett verschiebt und die weiche Erde formt - das ist der Schlüssel!

Schöpferische Aktivität macht sich zunutze, was verfügbar ist. Es organisiert sich selbst, passt sich an wie Wasser. Das müssen wir Menschen lernen.

Meist lassen wir diese schöpferische Würdigung der Lebenskraft nur dann zu, wenn in unserem Leben enorme Unsicherheit überhand nimmt. Doch sie existiert in jedem Moment. Wir können jetzt sofort sterben und loslassen: all die Vorurteile, mechanischen Verhaltensweisen, die Isolation, das uns teuer gewordene Ego, unser Welt- und Selbstbild, die Vorstellung von unserem Leben und der Zukunft.

Was für die Raupe das Ende der Welt bedeutet,
ist für den Rest der Welt ein Schmetterling. (Laozi)

Dann, nur dann, kann im Prozess des natürlichen Stirb und Werde etwas Neues wachsen, vielleicht eine Überraschung, sogar etwas Einzigartiges. Doch darum geht es nicht zwingend. Tatsächlich braucht Kreativität das  Eintauchen in das Chaos, um etwas Bekanntes wiederzuentdecken.  Plötzlich erkennen wir im Alltäglichen die Wiederkehr von neuen Möglichkeiten, die Frische jeden Morgens, die wir schon so lange nicht mehr wahr genommen haben.


Kreativität im Fluß des Chaos

 

Menschen, die sich in kreativen Bereichen engagieren, unterscheiden sich von den meisten Menschen ihrer Gesellschaft in ihrer Haltung gegenüber Fehlern, Irrungen und Wirrungen, Chancen und Scheitern. Der Grund ist ihre Bereitschaft, eher sogar ihre Sehnsucht ins Chaos des Lebens einzutauchen.

Jeder Künstler kennt den entscheidenden Punkt, wenn sich im wohlorganisierten Schaffensprozess plötzlich eine Weggabelung ergibt, ein Fehler, ein Tropfen Farbe daneben ging: ein Moment, ein Samenkörnchen  der Wahrheit, die sich verstärken kann. Dann beginnt eine Entwicklung der Arbeit in eine Selbstorganisation. Dann entsteht ein ganz anderes Ergebnis, als wenn unsere gewohnte Haltung gegenüber Fehlern und Missgeschicken uns in Scham oder Kontrollsucht  festhalten.

Dann kommen wir in Fluß im Schaffensdrang, in dem das normale Selbstbewusstsein sich auflöst, als raum- und zeitlose Phase der reinen Vertiefung in den Prozess, die uns geschieht, mit intensiver Klarheit über jede Aktion ohne jewede Angst vor dem Scheitern. 

Dies beschreibt das Yijing als qian, das Kreative. Hier begegnen wir wieder dem Bild des himmlischen Drachen, voller elektrischer Ladung, mit dynamischer Wucht und Macht wie ein Gewitter. Im Kommentar wird qian beschrieben: "Diese Energie ist grenzenlos im Raum und drückt sich als Bewegung aus."

Sich dem Fluß des Lebens hingeben, offen, ohne Begrenzung:

Genau das braucht ein Künstler. Um diese Offenheit zu bewahren, bedient er sich der poetischen und literarischen Metaphern, der Ironie, der Mehrdeutigkeiten -- eben all den Techniken, die einen Leser so nerven, der nach klaren Antworten sucht, der eine eindeutige Moral erkennen will, der Sicherheit braucht.

Das ist der Unterschied zwischen dem realitätsgetreuen, detaillierten Photo eines Seerosen-Teiches  und dem impressionistischen Gemälde eines Monets. 

Le bassin aux nymphéas, Claude Monet (gemeinfrei)


Das Gemälde ist unscharf, es spiegelt die Stimmung und die erzeugten Emotionen des Malers  wider, die ihm wichtiger als Details sind. Doch welche braucht er, um den Sinn auszudrücken? Welche lenken den Blick des Betrachters nur vom Wesentlichen ab?


Die Macht unserer Kreativität

Um das Leben zu userem persönlichen Meisterwerk zu gestalten, brauchen wir die Kraft der Kreativität. Bei diesem Wort denken wir meist an die Arbeiten von Künstlern, Malern, Bildhauer, Musiker, Schriftsteller. Wir meinen ein Künstler müsse immer etwas Neues, nie da gewesenes erschaffen.

Die Kreativität der Natur

Im antiken China waren die mystischen Drachen das Sinnbild für kreative Macht. Auf dieser antiken Zeichung erscheint der der Hüter des kreativen Chaos aus einem Wirbel in den Wolken.

 

Ausschnitt aus Neun Drachen von Cheng Rong (public domain)
 

Heutzutage repräsentiert die moderne Chaosforschung die Kreativität der Natur. Sie versucht zu beschreiben, wie die Natur neue Formen und Strukturen hervorbringt, aber ebenso ihre Unordung und Unvorhersehbarkeit.

Für uns menschliche Tiere auf Mutter Erde bedeutet Kreativität über das hinauszuwachsen, was wir wissen - oder meinen zu wissen. Wir sollen die Wahrheit erkunden, die dahinter steckt. Und genau hier kommt das Chaos hereingeschwappt.

Meist erzeugen die Denkgewohnheiten, unsere Konditionierungen, Domestizierungen, die angenommenen Wahrheiten über unser "Wissen" über Gott und die Welt in Wirklichkeit eine Menge Verzerrungen, Illusionen und Selbsttäuschungen. Noch wichtiger, all die Meinungen und "Fakten" verbergen die tiefe, echte Wahrheit über unsere individielle Erfahrung des Lebens in dieser Welt.

Doch was ist Wahrheit? 

Allein diesen Begriff authentisch zu verwenden, fällt uns schon schwer. Viele Menschen meiden ihn lieber. Zu oft wurde eine Wahrheit fanatisch aufgezwungen, die sich letzlich als falsch herausgestellt hat. Wieviele Leben haben diese Dogmen schon gekostet und kosten sie immernoch... 

Die Wahrheit, die wir hier meinen, die kann von niemandem aufgezwungen oder besessen werden. Es ist keine fixierbare Tatsache, sie ist nicht statisch, kann nicht in Worten beschrieben, nicht durch Logik abstrakt erdacht werden. Wir können ihr nicht zustimmen oder sie gar ablehen. 

Diese Wahrheit hält uns zusammen. Jeder von uns muss für sich selbst herausfinden, welche Bedingungen und Regeln die Wahrheit für das persönliche Leben stellt. Chaos und Wahrheit sind miteinander verbunden. Leben wir mit kreativen Zweifeln und mit unseren Unsicherheiten, dann betreten wir  die Welt des schöpferischen Chaos von Mutter Erde. Dort entdecken wir die Wahrheit des Universums, des dao, das nicht mit Worten zu beschreiben ist. 

Dann betreten wir die Welt der langen, dunklen Nacht der Seele, reisen wir wie die Helden alter Mythen in die wilden Lande, begeben uns auf Visionssuche in Dunkelheit, Chaos, begenen dem Tod, den Göttern und verborgenen Mächten. Genau so beschreiben die meisten alten Kulturen die Reise durchs Leben zur Heilung, zur Ganzwerdung, zur Weisheit. 

Dazu müssen wir lernen loszulassen: 

Nämlich gewohnte Denkstrukturen hinter uns lassen. Wir begeben uns ins Neuland, damit eine schöpferische Regeneration, Neugeburt unseres Selbst möglich wird.

Die Weisheit, die wir suchen, liegt in uns

Nehmen wir uns ein paar Atemzüge Zeit und spüren wir der Wahrheit dieses Satzes nach!

(aus Don Jose Ruiz, "Wisdom of the Shamans: What the Ancient Masters Can Teach Us about Love and Life ")
 

Unsere Lebensaufgabe ist, Zugang zu unserer inneren Weisheit zu finden. Es ist keineswegs Zufall, dass vor 2500 Jahren ein Mann 40 Tage und Nächte unter einem Feigenbaum saß, bis er seine wahre Natur erkannt hat. Als er zu seinen Freunden zuruckkehrte, war er tief verwandelt. Seine Anwort, was mit ihm geschehen sei, lautete:

”Ich bin erwacht.“
(Das Wort für ”erwacht“ in Pali lautet Buddha.)

Bücher, Rituale, Techniken, Meister und Gurus können uns dabei nur als Wegweiser helfen, um das Wissen zu entdecken, das aus unserer eigenen Tiefe stammt. Jeder muss seinem eigenen Weg folgen. 

Daher unterscheiden sich auch die Wege aller voneinander. Denn ein Jeder muss seine individuelle Weise finden, um seine Heil- und Lebenskunst zu entwickeln. Das Dao drückt sich in jedem von uns auf spezielle Weise aus, so dass wir auf diesem Weg zugleich Schüler und Lehrer sind. 

Wir alle sind als Lebens-Künstler geboren. Jeder Mensch wird geboren, um seine eigene Lebensgeschichte kunstvoll zu gestalten und zu vollenden. Wir sind eingeladen, das Leben als unser persönliches Meisterstück zu gestalten. Alles, was uns im Leben begegnet, können wir nutzen, um unser individuelles Kunststück der Freiheit zu erschaffen.

Wann, wobei bist Du aus ganzem Herzen voll dabei?
Was macht für Dich Sinn,
um Deine Lebensenergie voll und ganz einzusetzen?
Worin bist Du einzigartig? 
Was kannst Du besonders gut
(vielleicht auch laut anderen)?