14. März 2022

Kreativität im Fluß des Chaos

 

Menschen, die sich in kreativen Bereichen engagieren, unterscheiden sich von den meisten Menschen ihrer Gesellschaft in ihrer Haltung gegenüber Fehlern, Irrungen und Wirrungen, Chancen und Scheitern. Der Grund ist ihre Bereitschaft, eher sogar ihre Sehnsucht ins Chaos des Lebens einzutauchen.

Jeder Künstler kennt den entscheidenden Punkt, wenn sich im wohlorganisierten Schaffensprozess plötzlich eine Weggabelung ergibt, ein Fehler, ein Tropfen Farbe daneben ging: ein Moment, ein Samenkörnchen  der Wahrheit, die sich verstärken kann. Dann beginnt eine Entwicklung der Arbeit in eine Selbstorganisation. Dann entsteht ein ganz anderes Ergebnis, als wenn unsere gewohnte Haltung gegenüber Fehlern und Missgeschicken uns in Scham oder Kontrollsucht  festhalten.

Dann kommen wir in Fluß im Schaffensdrang, in dem das normale Selbstbewusstsein sich auflöst, als raum- und zeitlose Phase der reinen Vertiefung in den Prozess, die uns geschieht, mit intensiver Klarheit über jede Aktion ohne jewede Angst vor dem Scheitern. 

Dies beschreibt das Yijing als qian, das Kreative. Hier begegnen wir wieder dem Bild des himmlischen Drachen, voller elektrischer Ladung, mit dynamischer Wucht und Macht wie ein Gewitter. Im Kommentar wird qian beschrieben: "Diese Energie ist grenzenlos im Raum und drückt sich als Bewegung aus."

Sich dem Fluß des Lebens hingeben, offen, ohne Begrenzung:

Genau das braucht ein Künstler. Um diese Offenheit zu bewahren, bedient er sich der poetischen und literarischen Metaphern, der Ironie, der Mehrdeutigkeiten -- eben all den Techniken, die einen Leser so nerven, der nach klaren Antworten sucht, der eine eindeutige Moral erkennen will, der Sicherheit braucht.

Das ist der Unterschied zwischen dem realitätsgetreuen, detaillierten Photo eines Seerosen-Teiches  und dem impressionistischen Gemälde eines Monets. 

Le bassin aux nymphéas, Claude Monet (gemeinfrei)


Das Gemälde ist unscharf, es spiegelt die Stimmung und die erzeugten Emotionen des Malers  wider, die ihm wichtiger als Details sind. Doch welche braucht er, um den Sinn auszudrücken? Welche lenken den Blick des Betrachters nur vom Wesentlichen ab?