5. August 2021

Das Herz öffnen mit der Tonglen-Übung


Diese Übung des buddhistischen Herzöffnen mit dem Atem ist eine Abwandlung aus dem Buch "Suche die Freude" (von Pema Chödrön, Goldmann-Verlag, 2009), das leider vergriffen ist. Zu diesem Buch gehört eine CD mit der gesprochenen Übungsanleitung, die oft sehr hilfreich war.

Für Menschen, denen es schwer fällt, alte Gewohnheiten loszulassen, und die in ihrem Kummer und Schmerz feststecken, erläutert Pema Chödrön diese Übung detailliert in dem Buch "Wenn alles zusammenbricht, Hilfestellung für schwierige Zeiten" (Chödrön, Goldmann-Verlag, 2001).

Mit dieser Übung lernen wir die Dinge anzunehmen, die wir gewöhnlich ablehnen, also auch jene Seiten an uns und unseren Mitmenschen, die wir als "schlecht" verurteilen. Andererseits lernen wir das, was wir mögen und als "positiv" bewerten, großzügig mit andern zu teilen. Wir bürsten mit dieser Übung unsere Gewohnheiten kräftig gegen den Strich. Wir kehren unsere üblichen Reaktionen um, mit denen wir versuchen, Schmerz zu verdrängen oder zu vermeiden. Wir nehmen eine radikal andere Haltung ein:

Dabei nehmen wir das Leid nicht nur hin, sondern wir nutzen es sogar als Chance, sanfter zu werden und unser Herz zu erwecken. Wir lernen, den Kummer zu umarmen. Statt ängstlichem Festhalten üben wir großzügig zu sein, und das zu verströmen, was wir uns selbst am meisten wünschen. Andere lassen wir sogar an unserer Freude teilhaben. 

Durch diese Übung reift etwas in uns heran, das lange in uns verschüttet war. Die Buddhisten bezeichnen es als Bodhicitta, als erwachtes, mitfühlendes Herz, im Daoismus ist es das Kultivieren des Shen. Diese Übung ist das Herz der Heilungstraditionen des fernen Ostens, ebenso wie dessen, was Jesus Christus einst gelehrt hat.

In der ersten Phase erinnern wir uns bewusst an die Stille und den weiten Raum des Dao, der immer da ist. Manchen Menschen hilft das Bild vom unendlich weiten Himmel. Die dicken Sorgenwolken des Alltags verdunkeln zwar drohend unser Ego, aber auch sie sind wie Wolken am Himmel, die weiterziehen und sich irgendwann auflösen. Dahinter ist immer der weite, offene Raum des blauen Himmels.

In der zweiten Phase atmen wir ganz natürlich. Ein- und Ausatmen sollte dabei von etwa gleicher Dauer sein. Wir atmen den "Geschmack" unseres Kummers, der Sorgen, des Leides ein. Wir stellen uns dabei vor, wie sich unser Herz aller Bedrängnis öffnet und alles, was wir einatmen, im weitem Herzensraum Platz findet. Wir atmen aus und strahlen genau diese Erleichterung mit dem Atem aus und senden dabei die Vorstellung von Freude, Kraft und Entspannung aus.

In der dritten Phase stellen wir uns eine bestimmte Problemsituation vor, üben für einen bestimmten Menschen (oder weiterhin für uns selbst, solange wir uns blockiert fühlen). Wir versetzen uns so gut wie möglich in die Lage des anderen (oder uns selbst) hinein. Wir lernen das Leid und den Schmerz so gut wie möglich kennen. Einatmen und aussenden. 

Wir können das Ausatmen mit einer bestimmten positiven Vorstellung verbinden oder schlicht beim Gefühl der Entspannung bleiben. Danach können wir sogar unser Atmen auf all jene Wesen ausweiten, die sich in einer ähnlichen Lage befinden.

Vielleicht machen wir auch mal die Erfahrung, dass unser Mitgefühl blockiert ist, weil wir voller Vorbehalte oder völlig abgestumpft sind. Wenn wir also solche Schwierigkeiten haben, tun wir das, was sich für uns richtig anfühlt. Es ist kein Hindernis. Wir können dann diese Störung zum Üben nehmen. Wir atmen schlicht das innere "Nein", die Wut oder das unbennbare Gefühl von Widerstand ein. Wir schaffen so einen Zugang durch all unsere Schutzwälle, hinter denen wir unser Herz vermauern und uns abschotten.

Wir nutzen zugleich die fünf Merksätze (link) von Don Miguel Ruiz, um Zugang zu unseren fünf Seelenanteilen zu bekommen, die uns als inneres Team zur Seite stehen. 

So verbinden sich alle Welten in dieser Übung:

(Wenn ein Gong oder eine Klangschale ertönt, und die erste Phase des Tonglen einleitet, lauschen wir dem Klang als Ausdruck jener Offenheit, die hinter all unserem Ach und Weh liegt, unserem eigenen Schmerz und dem Schmerz all unserer Mitmenschen auf dieser Welt. Der Gong erinnert uns an die Stille und Offenheit, die immer da ist so wie der blaue Himmel immer da ist. )

Das Bild des unendlich weiten, offenen Himmels erinnert uns sofort an die Offenheit und kraftvolle Ruhe, die immer da ist, selbst wenn der Himmel von düsteren Wolken versteckt wird. Es ist die friedliche Ruhe, die hinter all unseren bedrohlichen Sorgenwolken liegt; hinter unserem eigenen Schmerz und dem aller Mitmenschen auf dieser Erde.

Gehen wir allmählich dazu über, all die engen, schweren, bedrückende Emotionen einzuatmen. Atmen wir Entspannung und heitere Gelassenheit aus, so gut es eben gerade geht. Üben wir das eine Weile. 

Lassen wir den Atem sich dabei selbst atmen, in unserem eigenen Rhythmus und Tempo. Wir können uns vorstellen, wie der Atem dabei in unser Herz strömt, wie es vom Einatem gefüllt wird, dass wir uns selbst unser Herz öffnen. Oder wir stellen uns vor, wie unser ganzes Sein den Atem aufnimmt und wieder aussendet und so immer weiter wird, wie sich unser Herz öffnet und sich füllt. Öffnen wir uns dem, was wir einatmen.

Spüren wir genau all die Stellen konkret körperlich, die symptomatisch sind, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen. Entspannen wir uns dabei so gut wie möglich und schaffen so Zugang zu unserem Herzen:

Be impeccable with your words
- Wähle deine Worte mit Bedacht:

Atmen wir all unsere frustrierte Gereiztheit, Ärger und Wut ein, all die Läuse, die uns über die Leber laufen. Atmen wir aus und lassen wir zu, wie unsere innere Traumseele uns dafür klare Einsicht und Urteilsvermögen schenkt. So entsteht die Vision für die richtige Richtung und Strategie in unserem individuellen Leben. (In der chin. Medizin stärken wir so unsere Leber-Energie.)

Be sceptical, but learn to listen
- Bleibe skeptisch, aber höre (dir) gut zu:

Atmen wir alle Geringschätzung, kalte Verachtung und eisige Ängste ein, die unseren Beckenbereich erkalten lassen. Atmen wir aus und lassen wir zu, wie unsere Kriegerinnen-Seele uns Hingabe schenkt, deren Wärme die eisige Blockade schmilzt. Wir fließen wieder geschmeidiger und harmonisch im Fluss des Lebens mit. (In der chin. Medizin stärken wir so unsere Nieren-Energie.)

Don’t take anything personal
- Nimm nichts persönlich:

Atmen wir alle Irritationen, verletzenden Bewertungen und Kritik ein, die uns die Brust beengen, einsam und depressiv machen. Atmen wir aus und beobachten, wie unsere Lehrerinnen-Seele sie mit Freundlichkeit entwaffnet und in bedingungslosem Respekt verwandelt. So verfeinert sich unser Ego durch ständige Reflexion im Spiegel der Anderen, bis unser Selbst zunehmend in selbstloser Achtung und Rechtschaffenheit erstrahlt. (In der chin. Medizin stärken wir so unsere Lungen-Energie.)

Don’t make any assumptions
- Ziehe keine voreiligen Schlüsse:

Atmen wir alle Erwartungen und Vorwürfe ein, all die Sorgen, Schuld, Scham, die im Kopf kreisen. Atmen wir aus und lassen wir zu, wie unsere innere Transformateurin mit Selbstbeherrschung für Konzentration  in unserer eigenen Mitte sorgt. Dort erwächst das Vertrauen in die Beständigkeit und Ausgeglichenheit des Universums. (In der chin. Medizin stärken wir so unsere Verdauungs-Energie.)

Always do your best
- Gib immer dein Bestmögliches:

Atmen wir alle Ungeduld, hektische Unruhe und grausame Getriebenheit ein, die unser Herz aufwühlen und erhitzen. Atmen wir aus und lassen wir zu, wie der innere Heiler sie mit Achtsamkeit sanft kühlt. So wird unser Herz wieder wie die Oberfläche eines stillen Sees, ruhig und klar, in dem sich das ganze Universum spiegelt. Nun entwickelt sich aus vollem Herzen wieder Verbundenheit zu Allen und mit Allem. (In der chin. Medizin stärken wir so unsere Herz-Energie.)

Atmen wir also mit offenem Herzen ein. Werden wir bei jedem Ausatmen noch entspannter in heiterer Gelassenheit. Solange wir uns selbst durch irgendetwas blockiert fühlen, üben wir Tonglen weiter für uns selbst und für all die Menschen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben wie wir. 

Wenn wir soweit eins sind mit dem Atem und innerlich bereit, können wir dazu übergehen, Tonglen auch für jemand anderen oder für eine bestimmte Situation zu üben. Wenn wir zunächst etwas überlegen müssen, für wen wir Tonglen üben wollen, und eine gewisse Zeit brauchen, um uns in dessen Lage zu versetzen, ist auch das in Ordnung. Wir können zu diesem Zweck einfach das Bild der Person in unserem Geist entstehen lassen. Meist genügt das schon.

Wenn unser Geist während der Übung abschweift, gehen wir wieder dazu über, dass wir uns beim Ein- und Ausatmen vorstellen, wie sich unser Herz öffnet und alle Grenzen zwischen uns und anderen auflöst.

Wenn wir nach einer Weile in unserer kraftvollen Mitte in heiterer Gelassenheit angekommen sind, atmen wir noch einige Atemzüge bewusst  die Fülle des Lebens ein und senden sie wieder aus. Dann verweilen noch einige Zeit in entspannter Ruhe.

Von jetzt an können wir das zu unserer täglichen Praxis machen. Zuerst kommen wir eine kleine Weile zur Ruhe, schaffen uns so etwas wie eine Ruheoase in der Alltagshektik. Das ist ganz wichtig. Wir müssen zur Ruhe kommen. Dann praktizieren wir eine Zeitlang Tonglen, und zum Abschluss unserer Meditation verweilen wir einfach wieder still.

Darüber hinaus können wir 

Tonglen als Erste Hilfe im Krisenfall anwenden

Atmen wir gerade dann ein in dem Wissen, dass wir nicht der einzige Mensch sind, der sich mit Problemen herumschlägt. Ein wichtiger Aspekt dieser Übung ist, dass wir endlich merken, wenn wir dicht machen, wenn wir uns verschließen. Das ist der entscheidende Punkt: Wenn wir merken, was geschieht, entwickelt sich allmählich Herzensgüte von selbst.

Selbst wenn das alles ist, was wir in einer Situation tun können, so ist es doch schon gewaltig — eine echte Re-Volution, eine 180°-Kehre. Wenn wir feststecken und dann Tonglen üben, werden wir immer wieder feststellen, dass wir gar nicht mehr schaffen. Wir können nichts anderes tun. Wir sitzen fest. Aber immerhin merken wir, dass wir blockiert sind. Gerade dann senden wir alles aus, was schön ist, wohl tut und uns Freude bereitet.

Üben wir das am besten unser ganzes Leben lang!