21. Oktober 2020

Die Absicht bewegt das Qi (I)

Im ersten Teil haben wir eine Antwort gesucht auf die Frage, was mit Aufmerksamkeit/Absicht gemeint ist. Nun stellt sich die Frage:

Was ist Qi?

Qi ist ein zentraler Begriff in der chinesischen Medizin und Philosophie. Um dafür eine solide Idee zu bekommen, müssen wir in der Zeit weit zurückwandern. Die wörtliche Übersetzung eines chinesischen Sprichwortes lautet:        

„Schamane (Wu) — Arzt: derselbe Ursprung“. 

Die Wu sind der Ursprung aller chinesischer Medizin-Tradition. Tatsächlich stammen die klassische chinesische Medizin (KCM) und der chinesische Schamanismus zu weiten Teilen aus demselben Ursprung (Yuan). Auch wenn sich Wu mit Schamane, Schamanismus, Schamanisieren übersetzen lässt, ist unser heutiges Verständnis für die mit diesem Wort ausgedrückte Symbolik eine ganz andere, als sie dem Kontext dieses chinesischen Satzes zugrunde liegt:

Denken wir heute an Schamanen, haben wir die Bilder aus heutiger Zeit im Kopf. Die sind vor allem durch den meist sibirischen Schamanismus geprägt. Dort wird bis heute eine religiöse, oftmals sehr aggressive Form des Schamanismus praktiziert mit spirituellen Reisen in andere Welten in Trance. Der Schamane wird meist durch eine schwierige und oft schmerzhaft-lebensbedrohliche Initiation berufen. 

Die Wu der ostasiatischen Tradition verstehen sich dagegen eher als Zeugen und spirituelle Medien, die ihren eigenen Körper als medizinisches Instrument zur Diagnose und zum Heilen nutzen. 

Die Fähigkeiten als Wu entwickeln sich auf natürliche Weise. Sie werden durch regelmässiges Üben und in Ritualen allmählich immer weiter verfeinert, bis die Wu eines Tages in der Lage ist, die geistigen Welten (Shen) rufen zu können. Diese höhere Kraft bezeichnet die chinesische Philosophie als Shen, in etwa Bewusstsein, geistige Welten, Spirit, göttliche Allmacht, und auch Lebensenergie ( auch Qi!)

Wu und Patient kehren zu ihrem ursprünglichen Selbst zurück, in dem sie sich freudig dieser höheren Macht hingeben und so Körper, Geist und Seele wieder verbinden. Die Wu begleiten und unterstützen ihren Patienten dabei durch Freude, Ekstase. Das ermöglicht dem Patienten sich selbst mit der eigenen, fühlbaren Freiheit zu verbinden statt in Ohnmacht zu verharren. 

Durch das Ritual wird ihm möglich, ausreichend Energie zu entwickeln, um Hindernisse zu überwinden. Plötzlich ist das Leben nicht länger mehr Leiden, sondern auch wieder die Erfahrung von Glück.

Die geistigen Welten behausen schliesslich den Körper und drücken sich durch den Menschen aus. Es ist der Ausdruck, der sich in den Augen zeigt: als lebendiger Glanz oder toter Blick? 

Dazu gehört eine Medizin, die mehr ist als das Verordnen von materiellen Drogen. Die Wu sind weniger daran interessiert eine Krankheit zu heilen, sondern wollen eher unsere hilflose Ohnmacht und Abhängigkeit umzuwandeln. 

Dann können wir selbst wieder Verantwortung für uns und andere übernehmen. Die Wu wollen die Menschen ermutigen, dass sie selbst die Fähigkeit besitzen, ihre eigene, innere Medizin (Qi) zu entwickeln. Das ist der ursprüngliche Weg der Wu.

Gongfu, durch geduldiges Üben erreicht man Meisterschaft

Eine Wu ist letztlich eine Person, die durch Gong Meisterschaft erlangt hat. 
Gong lässt sich in etwa übersetzen mit Aufmerksamkeit, Hingabe, steter Disziplin und hartem Training auf korrekte Art und Weise. Wir kennen diese charakteristische Eigenschaft auch durch die Begriffe Qi Gong und Gong Fu, als moderne Synonyme für die Bewegungsformen und Kampfkunst. Der Begriff ist jedoch keineswegs darauf beschränkt. 

Der Begriff Gong beschreibt vielmehr die Qualität und das Niveau, das jemand mit seiner Fertigkeit auf beliebigem Gebiet erreicht, z.B. in der Technik des Klavierspiels, als aufmerksamer Zuhörer, beim Setzender Akupunkturnadel.

In den klassischen Lehrbüchern der KCM, die ca. 300 v. Chr. entstanden, wird das Zeichen Gong direkt als Begriff für Arzt verwendet. Aufgrund ihrer hingebungsvollen, geschulten, verfeinerten Beobachtungsgabe mittels ihrer Sinne und des eigenen Körpers und ihrer engen Verbundenheit mit dem Universum wird es den Wu möglich, Schaden abzuwenden; bei Bedarf für für den Organismus ihres Patienten, aber auch für die Umgebung. Im Klassiker der chin. Pharmakologie heisst es in der Einleitung:       

  • Yi, Ärzte, behandeln Krankheiten
    mit der Medizin der gewöhnlichen Art.

  • Fang Shi, Lehrer der Methoden, behandeln Krankheitsneigungen
    mit Medizin der mittleren Ebene.

  • Wu, Schamanen, behandeln die Bestimmung
    mittels Medizin der höchsten Klasse.

Bestimmung steht als das höchste Ziel in der Hierarchie des medizinischen Handelns. Solch Maxime steht in der Einleitung eines Lehrbuches zur Anwendung von materiellen Kräutern. Dies zeigt uns, wie energetisch-feinstofflich die KCM selbst in ihrer substanziellsten Anwendungsform mittels Kräuterrezepturen ist. 

Dabei geht es immer um die Umkehrung der Pathologie weg vom Symptom hin zur Entwicklung des Potentials des Patienten. Es geht darum, den Patienten hinter der Maske seiner Person zu erkennen. 

Die Erkrankung ist die Herausforderung an uns, das verborgene Potential zu entdecken, damit unser Patient seine wahren Wesensanteile ausleben kann. Die Aufgabe lautet in einem Lehrsatz etwas mysteriös: „Zeige mir Dein Gesicht vor Deiner Eltern Geburt!“

Meditation ohne Gong, ohne Aufmerksamkeit auf Qi, ist nur Tagträumerei. 
Akupunktur ohne Aufmerksamkeit auf Qi ist Nadelstecherei. 
Körperübungen wie QiGong, Yoga ohne Aufmerksamkeit auf Qi sind Hampelei, im besten Falle Fitness.
Sie alle basieren auf dem Begriff des Qi. 
Doch genau den können wir nur sehr ungenau übersetzen, noch schwerer wirklich verstehen. 
Wir haben bisher Qi mit Bewegung, Lebensenergie gleichgesetzt. 


Die Welt der Zahlen, Symbole und Rituale

Ursprünglich beschränkte sich die Funktion der chinesischen Schriftzeichen keineswegs nur auf die Kommunikation zwischen den Menschen. Numerologie, Symbolik und Ritual sind untrennbar miteinander verbunden.

Die chinesische Medizin ist Zang Xiang,

Medizin der Körper-, Geist- und Seelen-Symbole!

Eine Unterscheidung in Körper, Geist, Seele, Psyche gibt es dort per se nicht. Wir können wie viele westliche Autoren versuchen, die Terminologie in verständliche westliche Konzepte zu transferieren. Besser ist, die chinesische Symbolik zu verstehen, statt zu versuchen, ein System über ein anderes System zu stülpen. Das führt unausweichlich zu Verwirrung!
 Deswegen hat schon der alte Konfuzius gelehrt: Zuerst Begriffe klären, bevor man handelt!

Berücksichtigen wir, dass selbst bekannte Begriffe wie Akupunktur und „Leitbahn“ Worte ist, die so nie von den Chinesen verwendet wurden, weder als Begriff noch als Konzept! Wir brauchen also andere Beschreibungen, die uns weniger von der Einheit des Lebens abtrennen. 

Nehmen wir die chinesische Sichtweise ein, ist alles Teil der Medizin, bzw. Medizin ein Teil von Allem. Dann bedeutet Medizin Umgang mit dem Leben in einem menschlichen Körper! Der Therapeut, der einen Patienten behandelt, ist nur ein Leben, das ein anderes Leben berührt. 

Der traditionelle Weg, die Begriffe verstehen zu lernen, erfolgt über die Beobachtung der Natur. Beobachten wir die sehr präsenten Lichter am Himmel mit ihren Veränderungen. Die Sonne entspricht dem Yang-Prinzip, der Mond dem Yin-Prinzip. Der Mond reflektiert das Licht der Sonne. Verstehen wir den Wechsel und Wandel des Mondes, lernen wir auch die Sonne kennen. 

Nur begegnen wir jetzt einem Problem unserer Zeit: 
wir haben nämlich keine Zeit mehr, 
um die nächsten Nächte, über Wochen, Monate und Jahre die Natur zu beobachten… 

Doch Qi lässt sich nicht ohne Verständnis von Yin und Yang verstehen. 
Yin und Yang verstehen wir aber nur, wenn wir bei Nichts beginnen. 

(In einem weiteren Artikel...)