21. Oktober 2020

Die Absicht bewegt das Qi (II)

Null, Nichts — Der Anfang von Allem

Also zurück zum Ursprung. Dem sind wir am Anfang schon begegnet. Yuan bedeutet im Chinesischen z.B. Einleitung eines Vortrages oder Vorwort eines Buches. Die tiefste Bedeutung ist jedoch, dass eine Beziehung aus einem bestimmten Grund geschieht. Alles ist mit allem in diesem Universum verbunden. Es ist also weit mehr als Zufall, wenn Menschen einander treffen. Es ist Yuan, der Ursprung. 
Es ist kein Zufall, dass Du, lieber Leser, hier bist: 

Es entstand ein Impuls, der zu Existenz führt. Er setzt etwas in Bewegung, Qi. 
Wir entscheiden uns, erheben uns und handeln. Ohne Bewegung geschieht nichts. 
Wissen oder eine Idee ist nur das Samenkorn. Das ist Yuan. 
Es braucht Erde, Wasser und Sonne, um zu wachsen. Es braucht die richtige Umgebung zur rechten Zeit, die das Wachstum erst ermöglicht. Das ist Qi. Yuan und Qi sind der Grund für die Existenz von allem. 

So wie die Existenz dieses Blogs nur eine Einladung war, nur ein Teil, Yuan; 
erst durch Qi, durch Strom, eine funktionierende Datenleitung, Server, Neugier, durch Lesen, erreichen diese Worte Dich. 
Fehlt auch nur ein Faktor, eine Bedingung oder eine Bewegung, ist weiterhin Leere, Nichts, keine Existenz. 

Die Welt wurde erschaffen, weil die Bedingungen hierfür existierten und miteinander wechselwirkten. Yuanqi ist in Summe der Grund für alles, was geschieht. 

Das bedeutet jedoch auch umgekehrt, dass in Allem auch das Potential des Scheiterns steckt. Das Glas neben mir existiert als Trinkgefäss. Lasse ich es fallen, zerspringt es irreversibel in 10000 Stücke. 
In seiner Funktion ist es nun sinnentleert, gescheitert. Wir können das Zerbrechen nicht ungeschehen machen. Ein Hindernis in der Datenverarbeitung, Stromausfall — und Dein Bildschirm wäre jetzt irreversibel leer. 

D.h. die Natur der Existenz ist nichts anderes als ultimative Leere. Ähnlich wie Materie tatsächlich viel mehr Nichts ist, als wir uns vorstellen können… 

Der Fluss des Ming

Üblicherweise wird Ming meist als Schicksal oder Bestimmung übersetzt, 
als sehr gewagte Übersetzungen… Ming ist vielmehr die Natur des Verlaufs unserer Existenz mit allen Ereignissen, die im Laufe dieser Zeit-linie geschehen. Ming ist die Bewegung des Qi, von Geburt zum Tod. Ming ist die Natur des An- und Abschwellens von Energien und Ereignisse an Hochs und Tiefs, denen wir im Laufe der Zeit begegnen. Ming ist die stete Veränderung des Qi über fünf Stadien, von Schöpfung, Wachstum, Blütezeit, Verfall und Tod. Die KCM bezeichnet diese als Wandlungsphasen.


Ob der Wechsel und Wandel, die Ereignisse uns leicht— oder eher schwerfallen, hängt davon ab, wie gut wir uns dem Ming im natürlichen Fluss des Lebens hingeben. Solange wir uns dem widersetzen, was wir erleben, wird es uns schwerfallen. Solange kämpfen wir gegen unsere eigene Lebensenergie, gegen den Fluss des Lebens, den Weg des Dao, gegen das Prinzip des „Dein Wille geschehe“.

Es ist also weder die Technik, die Nadel oder die Droge, die unsere Patienten heilt. 
Was dann?

Der Weise Sun Si Miao erklärte im 7. Jahrhundert: “Wer keine Kenntnisse über die Wissenschaft des Wandels besitzt, 
kann auch nicht als meisterlicher Arzt bezeichnet werden”. Der berühmte Arzt Zhang Jingyue, prägte 1000 Jahre später den berühmten Ausspruch: 

"Korrekte Medizin basiert vollkommen auf der Wissenschaft des Yijing."

KCM ist nichts anderes als die Verschmelzung von daoistischer mit konfuzianischer Lehre auf dem Fundament des Yijing:. Dieser Klassiker der Wandlungen ist der älteste aller chinesischen Texte, 
dessen Entstehungszeit heute bis ins 3. Jahrtausend VOR Chr. datiert wird. 
Doch lange bevor das Yijing je als Buch geschrieben war, lang bevor es überhaupt eine Symbolschrift gab, existierte die Philosophie von Yin und Yang bereits als numerologisches System. 

Das Buch der Wandlungen beschreibt dieses Modell der universellen Veränderungen von Yin und Yang anhand des Gesetzes der unendlichen Wiederholungen in der Natur. Sein Fundament ist die systematische, naturwissenschaftliche Beobachtung der Natur, des Laufs der Sonne, des Mondes, der Verlauf der Jahreszeiten, etc.

Der ursprüngliche Zweck des Yijing war weit weniger, als Orakelbuch zu dienen, wie heute oft erklärt wird. Vielmehr ist seine Aufgabe heute wie damals: das Schulen der Wu, wie sie die Aufmerksamkeit des Patienten dirigieren können. Wie die Wu einst, könnten wir auch heute für unsere Patienten aus den archetypischen Mythen die entsprechenden heilenden Geschichten erzählen, und diese Energiequalitäten zugleich mithilfe unseren Techniken, Nadeln und Kräutern in die KörperGeistSeelenLandschaft einweben. 

Das ist z.B. der Grund, warum die Akupunkturpunkte original sehr poetische Namen tragen. So soll z.B. Ma 28 v.a. ganz profan die Wasserwege durchlässig machen. Übersetzen wir Shui Dao mit „Folge dem Lauf des Wassers, folge dem Dao wie Wasser fliesst!“ — ist das eine ganz andere Aufforderung!

Denn: 
Wohin die Aufmerksamkeit geht, folgt das Qi!

Mittels Gong, der Absicht lehren wir den Patienten voller Geduld (lateinisch: patiencia!) im Ritual der Behandlung, 
wie er seine eigene Aufmerksamkeit auf das Symptom richtet, d.h. auf die Blockade des Qi. 
Das ist ein völlig anderer Ansatz, als in seinem Auftrag mal eben ein Symptom „wegzuzaubern“!

Durch Gong, Hingabe, Disziplin und Training, muss auch der Patient lernen,
selbst seine Aufmerksamkeit auf die Blockade auszurichten. 
Dann folgt sein Qi und bringt Bewegung in die Stagnation. 
In diesen Bereich fliesst immer mehr Qi, bis irgendwann genug Energie da ist, um die Blockade zu lösen. Die Symptome werden eines Tages vielleicht sogar überflüssig. 
Und die Wu bezeugt diesen Prozess und steht ihm hilfreich zur Seite.

So lehren wir unsere Patienten, sich wieder mehr und mehr dem Fluss des Ming hinzugeben. Techniken und Heilmittel sind also nur die Ermutigung in die Wasser des Lebens zu springen… — wie Schwimmflügelchen!

Das Netz der Leere, das keinen Weber hat

Für die alten Chinesen besteht unser Universum aus einem unsichtbaren Netz, dessen Fäden alles miteinander verbindet. Lao Zi beschreibt es als unermesslich gewaltiges Gewebe, durch dessen Verknüpfungen dennoch nichts hindurch fällt. Im Schöpfungsmoment haben sich aus der chaotischen Einheit verschiedene Qualitäten an Qi begonnen zu trennen. Das leichte, immaterielle Qi stieg einst auf und bildet den Himmel. Das materielle, dichte, schwere Qi sank herab und bildet die Erde.

Die Wechselwirkungen zwischen Himmel und Erde bringen die 10 000 Dinge dazwischen hervor. 
Alles Existierende stammt aus der Bewegung des Qi und ist durch Qi miteinander verbunden. 

Qi erzeugt Bewegung, Wechsel und Wandel. 
Qi prägt den Manifestationen spezifische Qualitäten und Aspekte auf 
und drückt darüber zugleich auch beliebige Zeitdauer aus.
Z.B. durch meine emotionale Aufregung entsteht Gestik/Mimik durch Muskelanspannung, 
und der damit verbundene Chemikaliencocktail bestimmt die Qualität von Herzschlag, Atmung etc…

Analog zum hermeneutischen „wie oben, so unten“ ist das Verstehen der Prinzipien des Yijing ein Weg, um unsere Organismen zu verstehen, weil der menschliche Körper Teil des Universums ist. Darüber hinaus lassen sich diese Prinzipien praktisch anwenden, um für den Patienten auch den individuell richtigen Weg zu finden, um entweder Krankheit zu vermeiden oder eine Erkrankung zu überwinden. 

Die schamanische Perspektive der Wu sieht den menschlichen Organismus als energetisches System, das aus Sub-Systemen gebildet wird. Jedes entspricht definierten Qualität, die ihrerseits aus Yin und Yang in einer bestimmten Verhältnis besteht. Gerät ein Untersystem ausser Balance, hat das wiederum Wechselwirkung auf die anderen, mit denen es verbunden ist. 

Mit dieser Beschreibung des Organismus aus antiker Zeit schimmert die moderne Sichtweise der Systemtheorie durch, die dynamische Systeme mit vielen, nichtlinear voneinander abhängigen Variablen als Funktionen von Zeit und Ort beschreibt. Wenden wir uns wieder dem Qi als beobachtbares Phänomen zu im reinsten Sinne von Naturwissenschaft: 

Da sein. Beobachten, was geschieht 

— selbst wenn es paradox, oder unerklärlich scheint, 
sich nicht messen oder gar in Gleichungen beschreiben lässt! Aufmerksamkeit ist auch die Basis der Diagnostik in allen alten asiatischen Medizinsystemen. Der Therapeut "macht keine Untersuchung", sondern wartet, lauert, beobachtet mit wachen Sinnen, was an Information vom Patienten kommt.

Und tatsächlich klingen viele Aussagen der modernen Physik verdächtig ähnlich wie die Zitaten aus den uralten Klassikern der chinesischen Medizin. Formulieren wir es doch modern: 

Es spannt sich ein Qi-Feld zwischen Himmel und Erde auf. 
Qi ist definitiv eine Funktion von Ort und Zeit. 
Dieses Feld kann sogar ein eigenständiges physikalisches Phänomen sein 
und ist nicht an Materie gebunden, kann aber auch wie Teilchen verhalten.. 
In einem solchen Feld entsteht zwischen Orten mit unterschiedlichem Qi eine gerichtete Kraft, 
die Arbeit verrichten kann, z.B. Qi, das eine lokale Stagnation beseitigt. 
Der Physiker bezeichnet diese Fähigkeit als Potential, 
so wie wir die Bewegung des Windes wir erst nutzen können, wenn wir ein Windrad haben.

Eindeutig: Bewegung, Lebensenergie, die innere Medizin, Shen...

— alles, sogar Materie, ist Qi!