1. November 2020

Sirb, bevor Du stirbst!

 

Der Vollmond von gestern auf heute ist kein gewöhlicher. Der schaurige Halloween-Kitsch zeigt zwar meist eine düstere Vollmondkulisse voller Werwölfe. Doch ein Vollmond in der Halloween-Nacht geschieht nur alle 19 Jahre,  noch dazu zugleich als "blue moon" zuletzt 1944.



Sterben können heisst leben lernen

Um im Tod gesegnet zu sein,

muss man leben lernen.
Um im Leben gesegnet zu sein,

muss man sterben lernen.

So lautet das Lied der dunklen Göttin. Das Sterben und der Tod des Winters ist für uns heutige Menschen ein riesiges Tabu-Thema. Wir haben vergessen, wie wir sterben. Und weil uns das Sterben und der Tod so fremd geworden sind, löst er in uns abgrundtiefe Panik aus. Geschürt wurde diese seit Jahrhunderten von den christlichen Kirchen, die unsere Verstorbenen ins Fegefeuer schickt, wo sie die Sünden ihres Lebens büssen müssen. Die Lebenden gedenken an Allerheiligen und Allerseelen ihrer und senden ihnen Hilfe in Form von Gebeten, Fasten und Almosen.

Wir glauben heutzutage, der Tod sei die grösste Herausforderung untern all den Lebensübergängen, wie Geburt, Pubertät oder Hochzeit. Die Völker der Urzeiten haben da keinen grossen Unterschied gesehen. Denn:

Seit Jahrtausenden wissen die Völker dieser Erde, wie man stirbt, auf symbolische Weise wie auf körperliche Weise. Überall um sich herum konnten die Menschen die Zyklen von Stirb und Werde beobachten. Wer den Launen der Natur in der Wildnis ausgesetzt ist, lebt immer mit dem Tod als Teil des Lebens. 

Für die Urvölker war die gesamte natürliche Welt von ewigem Leben erfüllt. Sie veränderte sich ständig. Und sie erneuerte sich andauernd. Der Tod des physischen Körpers war nur eine weitere Transformation (Erde), nur ein weiterer Übergangsritus.

Der Anthropologe van Gennep schreibt:
Für Gruppen wie auch für Individuen bedeutet das Leben selbst, abgetrennt und wiedervereint zu werden, Gestalt und Verfassung zu ändern, zu sterben und wiedergeboren zu werden. Es bedeutet zu handeln und zu enden, zu warten und zu ruhen, um dann wieder mit dem handeln zu beginnen, aber auch eine andere Weise.

Bald entwickelten die frühen Kulturen Rituale, als Ausdruck dieser Lektion der Transformation. Die Menschen damals mussten ums Überleben kämpfen. In einer Welt voller Chaos und Unvorhersehbarkeiten führten Zeremonien, die zu strategisch wichtigen Zeiten im Leben abgehalten wurden, zu einer gesunden Entwicklung des Einzelnen. Sie unterstützten zugleich das fortdauernde Wohlergehen des ganzen Stammes. 

Diese Zeremonien gaben den Menschen Instruktionen und damit Halt. Sie gaben das Bild des Universums weiter, das mit den Erfahrungen des Stammes übereinstimmte. Zugleich erweckten einen Sinn für Ehrfurcht und Dankbarkeit für das Mysterium und das Mystische. 

Darüber hinaus hatten die Zeremonien auch die wichtige Aufgabe des Grenzen-Setzens, die darin bestand, die Normen einer gegebenen moralischen Ordnung einzuprägen und zu fördern. Und sie gaben den Menschen Anleitung, wie man leben und sterben sollte.  

(lesenswert: Scott Eberle,
 Das Lied der Dunklen Göttin,
 Arun-Verlag, Uhlstädt-Kirchhasel, 2011)

Hierzulande herrscht an Allerheiligen Grabesstille, Musik- und Tanz-veranstaltungen sind gesetzlich untersagt. Ignorieren wir den Kommerzkitsch, der aus USA zu uns schwappt. Doch ein ein Stückchen südlicher konnten die christlichen Conquistadores in Mexiko die indigenen Weltsicht nie verdrängen. Dort wird der Tod bis heute als Anfang eines neuen Lebens gefeiert. Dieser Übergang in eine andere Daseinsform wurde nie als Trauerspiel, sondern immer als Fest gefeiert. 

Die Seelen der Verstorbenen kehren an diesen Tagen zu ihren Familien zu Besuch zurück. Und das Gedenken der Verstorbenen wird farbenprächtig gefeiert mit buntem Trubel auf den Strassen, mit Essen und Trinken, buntem Blumenschmuck, Kerzen und Lichtern, Musik und Tanz. 

In der Nacht zum 02. November wird bis Mitternacht wieder Abschied von ihnen auf den Friedhöfen genommen. Dann schliesst sich wieder die Verbindung ins Jenseits, die Toten kehren dorthin zurück. Das Fest ist zu Ende, bis zum nächsten Jahr.

Mit der Geburt beginnt das Sterben. Alle Zeit ist eins, untrennbar. Damit existieren wir zugleich in allen Zeiten. Unser jetziges Leben ist das Ergebnis aller vorherigen Leben. Alle Zukunft hängt von dieser Gegenwart ab. All unsere Leben sind miteinander verbunden. Daraus resultiert als wichtigste Erkenntnis: 


Das jetzige Leben, die Gegenwart, muss geachtet werden!

Wir alle verschwenden zu viel Qi, indem wir die Gegenwart ignorieren. Viele Menschen haben Angst, was die Zukunft bringt. Sie haben Angst vor Leiden und Siechtum, vor dem Tod. Dabei denken sie gar nicht darüber nach, was sie jetzt tun können, um ihre Gesundheit zu erhalten und Leiden zu vermeiden. Sie schätzen damit den Augenblick nicht wert.

Wenn der Tod naht, spätestens dann fürchten wir uns. In dem Moment erleben wir die Zukunft, aber erkennen das nicht. Würden wir wirklich verstehen, wie jener Augenblick und die Zukunft zusammenhängen, könnten wir uns in auf höchst spirituelle Weise kultivieren. 

Dann könnten wir verstehen, was in unserer Zukunft geschehen wird und bräuchten keine Angst davor oder vor dem Tod zu haben. Wir könnten jeden Moment genießen. Wenn der Moment des Todes naht, könnten wir uns auf diesen Moment freuen. Denn nun ist die Zeit gekommen, um unseren Geist in ein neues Lebensmuster zu verschieben. Der Tod ist nur ein Augenblick der Transzendenz für ein erleuchtetes Sein, um das neue Leben zu preisen, das gerade entsteht.

Viele Menschen wollen gern mehr über die Vergangenheit und ihr vergangenen Leben wissen. Das ist jedoch unwichtig! 

Das Yijing erinnert uns daran, dass nicht das Ereignis wichtig ist. Sondern die Reaktion auf das Ereignis ist alles. Die Vergangenheit ist vorbei. Wollen wir also wirklich etwas über unsere Vergangenheit wissen, dann müssen wir jetzt die Gegenwart und unsere Muster studieren. Sie sind nämlich nichts anderes als die Reflexionen der Vergangenheit. In unserem jetzigen Leben erfahren wir zugleich all unsere vorigen und zukünftigen Leben. So erfahren wir wahrlich mehr über unsere Vergangenheit ohne die Gegenwart zu missachten.

Unser Körper mit seiner sinnlichen Wahrnehmung und seinen Symptomen ist dazu das Instrument. Nehmen wir uns doch mal die Zeit, unsere konkreten, körperlichen Reaktionen auf Erinnerungen aus der Vergangenheit JETZT wahrzunehmen. Öffnen wir unser Herz für uns selbst 
— und alles, was da ist und geschieht.