19. September 2016

Wenig hilfreiche Psychopharmaka


Die derzeit verfügbaren Medikamente können die Symptome psychischer Störungen nicht dauerhaft lindern. Psychologische Betreuung wäre ein weit effizienterer und nebenwirkungsfreier Ansatz, legt nun eine umfangreiche Studie nahe.


Medikamente helfen langfristig nicht gegen psychische Störungen – diese Meinung vertreten die Bochumer Psychologen Prof. Margraf und Prof. Schneider der Ruhr-Universität. In zahlreichen Studien haben sie Daten zusammengetragen, die eine nachhaltige Wirkung von Psychopharmaka infrage stellen, teils sogar negative Folgen bei längerer Einnahme dokumentieren.


Dauerhaft wirksamer seien laut dem Forscherteam Psychotherapien. Die Autoren fordern, psychische Krankheiten nicht allein auf biologische Ursachen zu reduzieren, sondern Forschung zu biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren besser zu verzahnen. 


Kurzfristiger Effekt 


Margraf und Schneider trugen zahlreiche Belege zusammen, die gegen eine nachhaltige Wirkung von Psychopharmaka sprechen. 

Das Fazit:
Medikamente gegen Depression, Angststörungen und das Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätssyndrom wirken nur kurzfristig. Setzt der Patient sie ab, kehren die Symptome zurück.
Ähnliche Befunde vermuten die Autoren auch für Schizophrenie-Medikamente.

Nebenwirkungen vs. Verhaltenstherapie

 Eine langfristige Einnahme der Arzneien könne sogar negative Folgen haben, etwa ein gesteigertes Risiko für eine chronische Erkrankung oder erhöhte Rückfallraten. 



Psychotherapien wie die Kognitive Verhaltenstherapie erzielen laut den Autoren hingegen langfristig deutlich besser anhaltende Effekte. 

„Das Hauptproblem mit der Psychotherapie sind nicht die Wirksamkeit oder Kosten“, sagt Silvia Schneider. „Es ist die mangelnde Verfügbarkeit.“ Während Psychopharmaka schnell verabreicht werden könnten, müssten Betroffene oft lange auf einen Therapieplatz warten.  

Biologische Konzepte reichen nicht


Die Bochumer Psychologen befassen sich in ihrem Artikel auch mit der Frage, warum es nach 60 Jahren intensiver Forschung keine besseren Therapieoptionen gibt. Verantwortlich ist ihrer Meinung nach die weit verbreitete Vorstellung, psychische Störungen könnten sich allein mit biologischen Konzepten erklären lassen.

„Es ist heute Standard, den Patienten und der Öffentlichkeit zu erzählen, dass ein aus dem Lot geratenes Neurotransmittersystem die Ursache für psychische Erkrankungen ist“, erklärt Jürgen Margraf. Dabei sei nach wie vor nicht klar, ob dieses Phänomen Ursache oder Folge sei. Soziale Faktoren dürften nicht vernachlässigt werden. Auch die starren Kategorien von „krank“ und „gesund“ seien bei psychischen Störungen mit ihren vielen unterschiedlichen Ausprägungen nicht hilfreich, so Schneider und Margraf. 


Weniger Chemie, mehr Psychotherapie

Die Autoren fordern, die Forschung zu biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren besser zu verzahnen und den engen Blick auf mögliche biologische Ursachen zu weiten. Große Pharmaunternehmen müssten das Marketing im Bereich Psychopharmaka zurückfahren. Außerdem sollten Betroffene schneller Zugang zu psychotherapeutischen Angeboten bekommen.

Originalpublikation:

From neuroleptics to neuroscience and from Pavlov to psychotherapy: More than just the “emperor’s new treatments” for mental illnesses?
Jürgen Margraf et al.; EMBO Molecular Medicine; doi: 10.15252/emmm.201606650
; 2016

(aus Doccheck-News, 19.09.2016)