16. Oktober 2020

Yi Zhe Yi Ye: Medizin ist Absicht


Es existiert ein grundlegender Lehrsatz in allen ostasiatischen Medizinsystemen, deren Ursprung im antiken China liegt. All die Therapieformen fallen hierunter, die Begriffe wie Qi oder Leitbahn verwenden, und auch die asiatischen Trainingsformen der Kampfkünste zur Selbstschulung, Gesundheitserhaltung und Meditation:

Medizin ist Absicht, die Aufmerksamkeit führt Qi.  

Doch:

  1. Was bedeutet Aufmerksamkeit (chin. Gong)
    — wessen Aufmerksamkeit und worauf?
  2. Was ist Qi?

Fangen wir mit der ersten Frage an:

Was bedeutet Aufmerksamkeit?

„Wie geht es Ihnen heute?“ 
So starten wir doch meist unserere Gespräche, nicht nur zwischen Patient und Therapeut. Daraufhin formuliert Gegenüber meist sein Leben, Leiden, seine Symptome. Vielleicht gibt es sogar schon ein konkretes Anliegen oder einen Wunsch. Fast immer soll sich etwas zum Besseren verändern. 

Aus Sicht der daoistischen Heilkunst bedeutet Heilung immer Veränderung, Wechsel, Wandel, Transformation. Etwas muss sich verändern. Doch was nur? 

Denn meist gibt es gar nicht die eine Ursache für ein Symptom oder eine Erkrankung. Meist sind es viele kleine Faktoren, die sich im Laufe der Zeit potenzieren, bis das Fass voll ist, und es zur Bildung von Symptom, Schmerz und Krankheit kommt. Damit stellt sich für jede Behandlung die zentrale Frage: Was braucht es hier und jetzt zur Veränderung? Das lenkt unsere Aufmerksamkeit schon wesentlich weiter als das übliche: „Was können Sie für mich tun?“ 

An dieser Stelle müssen wir die Klassische Chinesische Medizin (KCM) von der modernen TCM (paradoxerweise als Traditionelle Chinesische Medizin bezeichnet ) klar unterscheiden:

TCM ist ein unter Mao Zedong in den 1950gern geschaffenes Medizinsystem, politisch konform und unter staatlicher Kontrolle. Dabei wurden die philosophisch-spirituellen Grundideen und alle nicht sozialistisch kompatible Denkweisen wegrationalisiert. Heute strebt die VR die Patentierung der „TCM“ an‚ denn es ist ein wichtiger Exportfaktor. Durch die Ausrichtung auf materiell-nachweisbare Konzepte, Kräuterheilkunde als Schwerpunkt und der Untermauerung der Medizin durch empirische Statistik lässt es sich perfekt in den Westen vermarkten. Die TCM negiert dabei die ausgesprochen energetischen und individuellen Grundlagen ihrer Klassiker, die wir heute im Fokus haben.

In sehr ähnlicher Weise negiert die westliche, moderne Medizin die bahnbrechenden Erkenntnisse der modernen Physik: 

Die moderne Physik ist der Ansicht, dass das Universum wie die greifbare Materie statt aus Partikeln aus Feldern besteht, die sich manchmal paradoxerweise wie Teilchen verhalten können 
— was ist schon ein Festkörper?   Der Physiker Art Hobson (Department of Physics, University of Arkansas, 2013) schreibt:


Es gibt keine Teilchen, es gibt nur Felder. Das Feld für ein Elektron ist das Elektron; jedes Elektron […] breitet sich als Gesamtmuster aus. Die Quantenphysik handelt von den Wechselwirkungen von mikroskopischen Systemen mit der makroskopischen Welt, anstatt nur von Messungen. Es ist wichtig, diese Tatsache klarzustellen, weil Lehrbücher heute immer noch eine Teilchen- und Messung- orientierte Interpretation lehren und somit zu einer Verwirrung unter den Studenten beitragen und zu einer aufkommenden Pseudowissenschaft in der Öffentlichkeit.

Keine Sorge, wir tauchen keineswegs in einen wilden, populärwissenschaftlichen Quantenmystizismus ab. Wir beobachten nur die Phänomene der Natur objektiv, so wie das Naturwissenschaft im tiefsten Sinne seit jeher fordert. Und Energie ist eine fundamentale physikalische Grösse.

In der Natur wandelt sich die Energie rund um uns zyklisch. Genauso werden auch wir Menschen von den sich ständig wandelnden Energien des Universums durchflossen. Jeder Augenblick des Lebens erfordert von uns, all die Veränderungen hier & jetzt anzuerkennen, die uns sowohl innerlich (Stirb&Werde-Zyklen auf Zellebene, Hormonzyklen etc) wie äusserlich (Jahreszeiten, Wetter, Lauf der Himmelslichter) zur Anpassung auffordern. In der KCM gilt:

Leben heißt Wechsel und Wandel.

Stillstand ist der Tod.

Gesundheit liegt vor, wenn die Bewegungen der Lebensenergie und damit die Körperfunktionen gut ausbalanciert ablaufen können. E-movere, in Bewegung bringen. Das ist, was Gefühle mit unserem Körper machen. Sie lösen unweigerlich eine konkrete, materielle Reaktion in der Körperlichkeit aus.

Eustress beflügelt als Antrieb, solange er nicht das Limit an Belastung übersteigt. Das Leben kann gemeistert werden und die geistige Ausdruckskraft (Shen) entfaltet ihr volles Potential. Dazu gehört untrennbar auch emotionale Balance, damit wir nicht in Emotionalität feststecken.

Bei unseren Patienten ist das spannende Leben jedoch in pathogene Anspannung übergegangen. Es wird meist nicht gut mit der Lebensenergie gehaushaltet. Ungünstige Gewohnheiten (z.B. zuwenig/zuviel/destruktive Bewegung, Essen etc.) stören den Kreislauf der Lebendigkeit, die unser Herz schlagen, das Blut, die Flüssigkeiten und Gedanken zirkulieren lassen.

Gerade wenn der Erkrankungen nicht auf einer akuten, äusseren Verletzung basieren, sondern sich chronifiziert haben oder scheinbar akasusal und plötzlich auftreten, weist dies darauf hin, dass den Ursachen bisher zuwenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

Die Frage lautet also: 

Was ist abgeschnitten, eingeklemmt, blockiert, zu unbeweglich im Menschen geworden?

Dann wird schon das Gespräch zur Therapie, der Akupunkteur selbst zur Nadel. 
Im ältesten Standardwerk der CM wird von der Not-wendigen Resonanz gesprochen:
Kommt es zur Resonanz zwischen Patient und Therapeut, wird die Krankheit verschwinden. 
Wird Shen außer Acht gelassen, wird die Krankheit nicht geheilt.

Ein guter Heiler darf sich also nicht nur auf sein Wissen und seine Fähigkeiten (Techniken) verlassen. Er muss über Integrität, Mitgefühl und Aufrichtigkeit (geistige Welten, Shen) verfügen. Die Methodik (Aku, Medis, Kräuter, andere Methoden) sind nur der technische Aspekt.

Symptome, Schmerzen, Leiden werden allgemein als lästige Übel angesehen, 
die es gilt, so schnell wie möglich zu beseitigen. Entwicklungsgeschichtlich gehören aber gerade der Schmerz zu den frühesten, häufigsten und eindrücklichsten Erfahrungen eines jeden Menschen. Schmerz ist überlebenswichtig — trotz allen Leids, das er bewirken kann. Der Körper schlägt durch die hervorgebrachten Symptome Alarm. Wir müssen heute die symbolische Sprache des Körpers erst wieder verstehen lernen:

Für die KCM ist jedes Symptom nur eine „Qi-Blockade“:

Der natürliche Fluss der Lebendigkeit ist gestört und unterbrochen. 
Ein Lebensbereich ist vom lebendigen Wandel abgeschnitten. 
Der Körper möchte den energetischen Engpass wieder durchlässig machen und zeigt dies an. 
Diese Forderung tritt als Symptom oder Schmerz ins Bewusstsein. 
Die Aufgabe des Schmerzes ist es, uns zu warnen, also auf diesen Lebensbereich aufmerksam zu machen.

Unterdrücken wir unsere Gefühle, kommt es genauso zur Qi-Stagnation. 
Deswegen sieht die KCM letztlich die Wurzel aller Erkrankungen im emotional aufgewühlten Herzen.

Ziel der chinesischen Heilkunst: 
den Patienten aus der Blockade wieder in den Strom des Lebens zurück zu (beg)leiten,
 d.h., seiner Lebensenergie wieder zu ermöglichen, frei zu zirkulieren.

Kann Qi frei fliessen, gibt es kein Symptom.

Wo ein Symptom auftritt, da stagniert Qi.

Der Weg etwas zu tun, ist DA zu sein.            

Lao Zi stellte diesen Satz als Behandlungsmaxime auf.
Da sein, sich dort hin zu wenden, wo das Symptom sich zeigt. 
Dies ist der 1. und wichtigste (!) Schritt jeder Therapie — noch lange bevor therapeutische Techniken überhaupt relevant werden. 
In diesem Satz von Lao Zi steckt das Wesentliche des Heilungsgeschehens:

„Gemeinsam mit dem Patienten Da-Sein und Nicht-Tun“.

Je nach Schule und Stil wird die Fähigkeit des Therapeuten zum absichtslosen (Be-)Zeugen, modern sprechen wir von Diagnose, mehr oder weniger geschult. Sie bleibt jedoch der zentrale Aspekt der klassischen Heilkunst. Wir als Therapeut begleiten diesen Da-Sein-Prozess des Patienten 
v.a. durch erfahrene Anwesenheit als Vorbild und als Zeuge.

Als Patient haben wir nicht immer die Wahl der äusseren Umstände oder ob wir das Symptom wollen. 
Wir haben aber immer Wahl, wie wir mit ihm umgehen, 
mit welcher inneren Haltung wir ihm begegnen wollen.

Jedes Symptom braucht zur Heilung zuerst eine neugierig-offene Aufmerksamkeit. Je mehr wir zögern, uns der Themen bewusst zu werden, desto öfter und heftiger wird uns das Symptom solange schmerzlich „auf die Nerven gehen“, bis wir zu Sinnen kommen. Weglaufen ist irgendwann nicht mehr möglich.

Gern suchen wir nach dem Schuldigen für den Schmerz im Materiellen, im Körperlichen, im Aussen. Doch meist gibt es keinen schuldigen Täter, der schnell aus dem Weg geräumt werden kann und alles ist gut. Denn allzu oft spiegelt die scheinbar äussere Ursache nur das innere Thema. Der grösste Gegner, dem wir uns stellen müssen, sind wir selbst. Und das innere Thema wird solange wiederkommen, bis der Patient bereit ist, sich seinem eigenen Schmerz zu stellen!

Not-wendige Voraussetzung für Veränderung (und damit für Heilung) ist die Bereitschaft, einen Raum, ein Energiefeld für Verstehen zu öffnen. Sowohl Therapeut als auch Patient müssen als ersten Schritt lernen, nicht zu Tun, zuzuhören und ganz da zu sein mit allem, was ist:

  • Da sein mit all den Symptomen, dem Schmerz und den Empfindungen, die sich dann zeigen können.
  • Beide müssen lernen, sich selbst, den eigenen Schmerz und alles, was sich zeigt, auszuhalten.
  • Hier, im räumlich geschützten und zeitlich begrenztem Therapiefeld, darf sich jetzt all das zeigen, 
was normalerweise verscheucht und verdrängt wird.

Oft braucht genau das zunächst einiges an Mut und Übung. Es ist, wie wenn man einen wilden Vogel immer wieder vom Balkon verjagt hat. Nun wird er nicht auf Zuruf sofort bereitwillig auf die Hand geflogen kommen…

Vielen Patienten (und Therapeuten?) fällt es schwer, eine Zeitlang ruhig zu sitzen ohne zu Reden, zu liegen im Nicht-Tun. Das ist eine Herausforderung. Meist ist dies weniger bedingt durch körperliche Einschränkung, als vielmehr durch innere Unruhe, Zappeligkeit, Ungeduld.

Und was ist Qi? 
Die Antwort folgt in einem weiteren Artikel...